Der Tag, an dem eine Kaffeetasse und ein Stuhl so viel mehr waren...

An einem ungemütlichen kalten Märztag stand ich in Berlin fröstelnd an der Haltestelle. Auf  der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Videothek und ich betrachtete interessiert die Schaufenster. Während diese sonst schmucklos gestaltet waren und einem lediglich einen Einblick in die Räume der Videothek gewährten, waren sie an diesem Tag mit mehreren Fernsehern ausgestattet, auf denen alle der gleiche Film gezeigt wurde. Gedankenversunken verfolgte ich die Filmszenen, als ich einen Mann bemerkte, der vor der Videothek stehen blieb und die wechselnden Bilder auf den Bildschirmen betrachtete. Ich stand auf der anderen Straßenseite etwas seitlich versetzt, so dass ich das Profil des Mannes von meiner Position aus sehen konnte. Bei dem Mann handelte es sich um einen der Obdachlosen unserer Stadt, den ich vom Sehen kannte.

Und während ich dort so stand und die Szene auf mich wirken ließ, wie der obdachlose Mann, bekleidet mit Jeans und Anorak, seine Habseligkeiten neben sich in einem Einkaufswagen platziert, mit diesem Lächeln im Gesicht und offensichtlicher Freude die für ihn tonlosen Bilder im Schaufenster verfolgte, trat ein junger Mann aus der Videothek. Er war nur mit einem Pulli bekleidet und sprach den Mann vor dem Schaufenster an.

Dieser schaute irritiert und schüttelte dann den Kopf. Daraufhin verschwand der junge Mann wieder in der Videothek, um kurze Zeit später wieder mit einem Stuhl in der einen und einer Kaffeetasse in der anderen Hand herauszutreten. Er stellte den Stuhl vor das Schaufenster und reichte ihm den Kaffee.

Zögerlich griff er nach der Tasse. Der junge Mann verschwand wieder in der Videothek und ließ ihn vor dem Schaufenster mit der Kaffeetasse in der Hand, dem Stuhl neben sich und seinen Habseligkeiten im Einkaufswagen zurück.

Während er das Geschehen auf den Bildschirmen weiter verfolgte, wärmte er seine Hände an der Tasse und nippte an dem Kaffee.

Nach einer Weile setzte er sich auf den Stuhl und es schien, als hatte er seine Umgebung, die Straße, den Bürgersteig, die ungemütlichen Temperaturen, ja selbst die Tatsache, dass ein Schaufenster ihn vom Geschehen auf den Bildschirmen trennte, vergessen. Er wirkte versunken in die tonlosen bunten Bilder und ich stand auf der gegenüberliegenden Seite und fühlte mich von dieser Szene berührt.

Längst war mein Bus an mir vorbei gefahren und ich stand immer noch dort und schaute zu dem Mann hinüber. Der Obdachlose, der aus unserer gesellschaftlichen Mitte längst ausgegrenzt war, berührte mich in diesem Moment auf eine Art und Weise, dir mir noch nach all den Jahren so gegenwärtig ist.

Er wirkte in diesem Moment zufrieden und glücklich. Dort auf diesem Stuhl, mit der Kaffeetasse in der Hand wirkte er in diesem Augenblick glücklicher, als die Menschen, die an ihm vorbei hasteten. Menschen, die ein Dach über den Kopf hatten, dass sie ihr zu Hause nennen durften, die in ihrer Position in unserer gesellschaftlichen Mitte akzeptiert waren, die aber vielleicht verlernt hatten, sich an den Kleinigkeiten, den scheinbar unwichtigen Dingen in unserem Leben, zu erfreuen. Die so viel forderten, so viele benötigten, um das Gefühl des Glücklich seins zuzulassen.

Und er saß dort, auf der anderen Straßenseite und ließ den Augenblick zu und der junge Mann, der ihm den Stuhl hinstellte und die Kaffeetasse überreichte, führte mir vor Augen, dass da Menschen unter uns waren, die Wärme und Geborgenheit an einem ungemütlichen Märztag auf dem Bürgersteig mitten in Berlin ermöglichten und das einem Fremden, ja sogar einem Obdachlosen gegenüber.

Wenig kann manchmal so viel sein, Mensch sein oftmals so einfach.

Seit jenem Tag sind mehr als zehn Jahre vergangen.

Die Videothek existiert noch heute und jedes Mal, wenn ich an dem Laden vorüber gehe, denke ich an den Obdachlosen und den jungen Mann und daran, wie an jenem ungemütlichen Tag im März eine Kaffeetasse und ein Stuhl die Welt ein Stück in die richtige Richtung bewegten.

 

Claudia Lekondra