Stress passiert nicht

Jeder, der schon mal in Italien mit dem Auto unterwegs war, weiß, dass sich die Fahrweise dort erheblich von der in Deutschland unterscheidet. Das Abbiegen oder der Spurenwechsel wird selten durch den hierzu erfundenen Blinker angezeigt. Die Hupe wird eingesetzt, um den anderen Straßenverkehrsteilnehmern anzukündigen „Hoppla ich komme!“ und nicht, wie in Deutschland: “Hallo geht´s noch, Du verhältst Dich gerade nicht richtig im Straßenverkehr, Du behinderst mich“ (wobei hier die italienische Hupvariante die deutlich sympathischere ist). Die Vorfahrtsregelung wird selten eingehalten, dafür zeichnet sich die Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer durch flexibles vorausschauendes Fahrverhalten aus, was einem ermöglicht, zu neunzig Prozent unbeschadet eine Kreuzung zu überqueren. Bei der Nutzung der jeweiligen Spuren sollte man nicht so kleinlich sein und darauf pochen, seine Spur nur für sich zu beanspruchen, sondern es ist vielmehr angesagt, sich bei Bedarf ganz rechts in seiner Spur einzuordnen, um dem Gegenverkehr oder den Überholenden die Möglichkeit zu geben, ihre Spur etwas auszuweiten. Kurz um, man darf keinesfalls ängstlich sein, sollte über eine überdurchschnittliche Fahrpraxis und ein gutes Augenmaß verfügen, dann steht der Teilnahme am italienischen Straßenverkehr erst einmal nichts im Wege. An dieser Stelle sei natürlich auch erwähnt, dass die Fahrweise sich auch von Region zu Region unterscheidet. Die größte Herausforderung ist hier –nach meiner bisherigen Erfahrung- Kampanien!

Eine Woche waren wir täglich mit dem Auto an der Amalfiküste und der umliegenden Region um Neapel unterwegs. Die besondere Herausforderung dort: Die Straßen sind eng und kurvig und man muss nicht selten eine Straßensteigung von 15% bewältigen und das alles bei hohem Verkehrsaufkommen. Der erste Blick auf den Zustand der Autos dort lässt darauf schließen, dass auch das Augenmaß der routinierten einheimischen Autofahrer der Realität oftmals unterliegt. Man sieht selten intakte Außenspiegel und beulen- und kratzfreie Autos. Als wir dann von Mitarbeitern der Automietstation drauf hingewiesen wurden, dass Beulen erst ab einer Tiefe von 5 cm als Schaden angesehen werden, schwante uns so langsam aber sicher, auf was für ein Abenteuer wir uns da einließen. Doch nach einer Viertelstunde Autofahrt vom Flughafen Richtung Amalfiküste hatten wir uns bereits mal wieder von den uns bekannten Verkehrsregeln verabschiedet und das heimische Fahrprinzip verstanden. Wie bereits erwähnt, man sollte nicht ängstlich oder zimperlich sein, nicht unnötig bremsen, sich trotz Stoppschild vorsichtig und gekonnt in den fließenden Verkehr einordnen, nicht auf sein Vorfahrtsrecht pochen, höflich andere statt dessen vorlassen und umgekehrt mal kurz und zackig klar machen, dass man jetzt auch gern mal fahren würde. Immer darauf gefasst sein, dass die Motorroller gefühlt von allen Seiten plötzlich und unerwartet (sie kommen nicht nur von rechts links vorn und hinten, sondern gefühlt auch von oben) auftauchen. Der Vorteil ist, dass sie meist durch fröhliches Hupen auf sich aufmerksam machen, wenn sie vermuten, dass sie von einem anderen Verkehrsteilnehmer nicht wahrgenommen werden. Durch diese flüssige zügige Fahrweise kommt es selten zum Stau, sondern der Verkehr fließt, wenn auch zur Rushhour zähflüssig. Ein Stau entsteht, wenn ein Reise- oder Verkehrsbus sich an bestimmten Stellen die kurvenreiche Küsten- oder Dorfstraße entlang tastet. Man muss hier oftmals minutenlang ausharren, selber sein Fahrzeug ganz rechts an den Fahrbahnrand quetschen, alles einklappen, was sich an einem Fahrzeug einklappen lässt und warten, bis es dem Busfahrer gelingt, durch Vor-und Rückrangieren sein Ungetüm um die Kurve zu lenken. Bei all diesen Aktionen entsteht weder Unruhe, Hektik noch Stress. Alle Verkehrsteilnehmer strahlen eine Gelassenheit aus und zeichnen sich durch geschicktes Lenken ihrer Fahrzeuge aus. Diese Beobachtung ließ mich über uns und unser hektisches und oft gestresstes Verhalten nachdenken. Auch dort müssen die Leute zur Arbeit und Termine einhalten, aber lassen sich –für unsere Verhältnisse- auch in stressigen Verkehrssituationen nicht aus der Ruhe bringen. Und während ich dort so mitten drin das Treiben auf den Straßen beobachtete, kam mir der Spruch: Stress passiert nicht. Stress ist die Art, wie Du auf Dinge reagierst, in den Sinn und ich fühlte mich mitten in dem hupenden sympathischen Straßenchaos sonderbar entspannt. Vielleicht gelingt es mir ja, wenn ich beim nächsten Mal wieder Gefahr laufe, auf Dinge gestresst zu reagieren, mich an die kurvenreiche Straße Kampaniens und deren stressfreien Verkehrsteilnehmern zu erinnern, die offenbar die richtige Art haben, auf Dinge zu reagieren.

 

Claudia Lekondra