Ein jeder hat Vorurteile außer ich, so denken doch die meisten von uns und man ist stets bemüht, sich tolerant und weltoffen zu geben. Und dann erwischt man sich auf einmal in einer Situation, in der man sich eingestehen muss, dass in einem sehr wohl eine vorgefertigte Meinung schlummert. Letztens war ich in meiner schönen weltoffenen und ach so toleranten Heimatstadt Berlin gegen ein Uhr nachts im Zentrum noch mit der S-Bahn unterwegs. Wie üblich waren um diese Uhrzeit die Zugwaggons in dieser Gegend der Stadt noch gut besucht, so dass man nicht die Möglichkeit hatte, einen Sitzplatz zu ergattern, sondern froh war, wenn man einen halbwegs bequemen Stehplatz fand. Ich stand in unmittelbarer Nähe einer der Waggontüren, als an einer Station ein Schwung schwatzender junger Leute in den Zug stieg. Während die Waggontüren gerade dabei waren sich zu schließen und die jungen Leute noch damit beschäftigt waren, durch Hin- und Hergeschiebe ihre Stehplätze zu sortieren, sprang ein großer fülliger arabisch aussehender Mann, in beiden Händen beladen mit mehreren Einkaufstüten einer Billigkleiderkette, in den Zug und blieb direkt an der sich schließenden Tür mit den Tüten in beiden Händen stehen und sagte :“Entschuldigung ich wurde festgenommen.“ Super, dachte ich, dass hat dir ja noch gefehlt: ein Verrückter nachts in einer völlig überfüllten S-Bahn. Da er in seiner Position verharrte, fühlte ich mich und einige andere Fahrgäste etwas in unserem schon sehr beengten Freiraum noch beengter.
Unauffällig musterte ich den neuen Fahrgast und schmulte in seine Taschen. Was, wenn der jetzt irgendetwas Verrücktes anstellt? Vielleicht hat er irgendwo sogar Sprengstoff. Würde sich doch super anbieten, nachts in einer überfüllten S Bahn einer so freiheitsliebenden Stadt einen Zugwaggon in die Luft zu sprengen. Ich sah schon förmlich die Schlagzeilen in der Tagespresse vor mir. Ich spürte, wie meine Anspannung zunahm. Oder was wäre, wenn er, gereizt durch den beengten Stehplatz, anfangen würde, in einer typischen aggressiven Araberart Stress zu machen?
Während die eine Hälfte von mir damit beschäftigt war, von Vorurteilen beflügelt, alle Schreckensszenarien durchzuspielen, nahm die andere Hälfte wahr, dass die Körperhaltung des massigen Mannes gehemmt wirkte, fast so, als würde er sich sehr unwohl in seiner Haut fühlen und sich ausschließlich darauf konzentrieren, während der Zug bei der Fahrt hin -und herschaukelte, nicht sein Gleichgewicht zu verlieren, da er, bedingt durch die Einkaufstüten in beiden Händen, nicht die Möglichkeit hatte, sich festzuhalten und aufgrund der Enge im Zug sich ihm auch nicht die Möglichkeit bot, auch nur eine seiner vielen Tüten abzustellen. Aber schon war die andere Hälfte von mir (die mit den Vorurteilen) zur Stelle und meldete sich: Na ist doch typisch: Attentätern sieht man schließlich nicht an, was sie vorhaben, genauso, wie man Verbrechern ihre Verbrechen nicht ansieht. Der Zug fuhr in den nächsten Bahnhof ein und ich ließ den stämmigen Mann aus meinem Augenwinkel nicht aus dem Blick. Als der Zug stand und die Türen sich öffneten, verließ er sofort seine Position an der Tür und drängte sich mit einem entschuldigenden und zugegebenermaßen sympathischen Lächeln an mir vorbei auf die andere Seite, so dass die anderen Fahrgäste ungehindert ein- und aussteigen konnten. Misstrauisch verfolgte ich ihn mit meinem Blick und sah, wie er ein Stück neben mir erleichtert einen nicht ganz so räumlich beengten Stehplatz fand. Unsere Blicke trafen sich und er lächelte mich erneut an, während er im gebrochenen Deutsch sagte: „Jetzt bin ich wieder frei.“ Ich schaute ihn irritiert an, woraufhin er die Tüten zu seiner rechten schwenkte und ich sah, dass eine der Tüten an einer Ecke am unteren Ende eingerissen war. „Ich konnte mich nicht bewegen,“ erklärte er dann noch und nun dämmerte mir, was geschehen war. Bei seinem Sprung in den Zug während sich die Türen schlossen, wurde eine seiner Tüten eingeklemmt, so dass er sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Das war der Grund gewesen, warum er wie angewurzelt an der Tür stehen blieb. Und während er weiter fröhlich im gebrochenen Deutsch erzählte, dass er aus Ägypten zu Besuch in Berlin ist, wie toll die Stadt und Menschen seien und er morgen wieder nach Kairo fliege, musste ich mich und mein Gedankengut erst einmal unauffällig sortieren, während ich dort stand und ihm lächelnd zuhörte und er mir weiter fröhlich berichtete, wie anstrengend so ein Besuch sei, da es bei ihnen üblich ist, der ganzen Familie etwas aus dem Urlaub mitzubringen und er für diese Einkäufe allein zwei Tage unterwegs war. Er habe elf Geschwister und etliche Neffen und Nichten und so ging seine Erzählfreude im gebrochenen Deutsch zwei Stationen weiter. Bevor er ausstieg bedankte er sich bei mir, wohl stellvertretend bei allen Berlinern, für unsere Gastfreundschaft und für die tolle Zeit, die er in unserer Stadt verbringen durfte. Tief beschämt bei dem Gedanken, was ich ihm im Rausch meines Vorurteilswahns alles zugetraut hatte, sagte ich ihm, wie schön es war zu hören, dass er hier so eine tolle Zeit verlebt hatte und wünschte ihm einen guten Rückflug. Dann entschwand er in die Nacht und ich war einmal wieder froh, dass wir Menschen nicht in der Lage sind, die Gedanken der anderen zu lesen. Wie peinlich wäre es mir gewesen, wenn dieser nette Mensch aus Kairo auch nur ansatzweise hätte erahnen können, was ich dachte. Ich verfluchte meine vorgefertigte Meinung. Ich habe mal gelernt, Vorurteile seien eine zutiefst menschliche Eigenschaft und fest in unserem Gehirn verankert. Während eines Seminars wurde ich mal darüber aufgeklärt, dass Vorurteile Wahrnehmungsfehler seien und schaden dem sozialen Zusammenleben. Oh wie wahr. Wenn ich so darüber nachdenke, dass mein Wahrnehmungsfehler über eine Zugstation lang andauerte und mich fast dazu gebracht hatte, in Panik auszubrechen. Diesen Ausbruch hätte ich dem netten Mann aus Kairo jedenfalls nicht sozialkompartibel erklären können.
Während der Zug weiter durch die Nacht rauschte, dachte ich an die Aussage eines Hirnforschers, der mal erläuterte, dass Vorurteile im Grunde ein Trick des Gehirns seien, um bei Informationsverarbeitung Energie zu sparen. Je schneller ein Mensch sein Umfeld einordnen kann, desto mehr Kapazitäten bleiben für andere Denkvorgänge und desto schneller kann es auf Gefahren reagieren. So gesehen hat also mein Gehirn hierbei alles richtig gemacht. Meine Vorurteile haben mich auf „Gefahrenmodus“ geschaltet, weil ein arabisch aussehender Mann mit Einkaufstüten beladen wie angewurzelt an einer Zugtür stehen blieb. Na prima. Zu meiner Verteidigung muss ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der andere Teil von mir, der, der nicht so vorurteilslastig arbeitete, in der Situation sehr wohl wahrgenommen hatte, dass der nette Mann aus Kairo gehemmt wirkte und den Anschein machte, sich in seiner Haut in dieser Situation nicht wohl zu fühlen. Damit lag ich ja vollkommen richtig. Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich diejenige gewesen wäre, die in einem fremden Land, mit Tüten eingeklemmt in einer Position verharren hätte müssen und mir vor lauter Schreck nicht die richtige Vokabel in der fremden Sprache eingefallen wäre, um den anderen Fahrgästen meine Situation zu erläutern. Immerhin hatte er sich ja beim Betreten des Zuges entschuldigt und darauf hingewiesen: „Ich wurde festgenommen“. Und hätte der eine Teil von mir bei seinem Anblick nicht gleich in den Vorurteilsmodus geschaltet, wäre es dem anderen Teil von mir möglich gewesen, die Chance zu nutzen, der Wahrnehmung weiter zu folgen, dass der nette Mann aus Kairo den Eindruck machte, sich unwohl zu fühlen. Dass er keinesfalls verrückt oder ein Attentäter war, sondern ein Tourist, der einfach eine nicht ganz so passende Vokabel wählte. Immerhin bin ich kein ganz hoffnungsloser Fall, was das Thema Vorurteile angeht und ich werde weiter daran arbeiten, sie abzulegen. Mich tröstet ein wenig der Satz von Arthur Schnitzler. Wer Vorurteile revidieren kann hat keine. Na also!
Claudia Lekondra