Im November 1938 wird der jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus seiner Wohnung vertrieben. Mit einer Tasche voller Geld, das er vor den Nazis retten konnte, versucht er zunächst ins Ausland zu fliehen. Erfolglos. Seine Verwandten und Freunde sind verhaftet oder verschwunden und so reist er ziellos mit dem Zug durch Deutschland. Die Reichsbahn wird sein Zufluchtsort. Otto Silbermann begegnet während seiner Reise durch Deutschland unterschiedlichen Menschen der Gesellschaft jener Zeit. Denen, die aktiv Schuld auf sich laden, den Mitläufern, den anderen verängstigten Menschen und denen, die sich versuchen weg zu ducken. Dies ist die Geschichte des Romans „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz. Eine bedrückende Geschichte, die die Atmosphäre jener Tage in Deutschland wiederspiegelt. Die Art der Erzählweise gibt einem das Gefühl, als begleite man Otto Silbermann bei seiner ungewöhnlichen Reise. Man spürt die Angst, die Ausweglosigkeit und die Verzweiflung. Die Gespräche, denen man als Leser folgt, geben einem einen Eindruck der erschreckenden Realität jener Tage. Soweit hört es sich an wie einer der vielen Romane, die sich mit der Verfolgung der Juden im Nazi-Deutschland auseinandersetzen.
Was diesen Roman neben seinem Schreibstil, der kaum Distanz zulässt, außergewöhnlich macht, ist zum einen das Jahr der Entstehung des Romans sowie das Alter des Autors. Ulrich Alexander Boschwitz schrieb diesen Roman im Alter von 23 Jahren kurz nach den Novemberpogromen 1938 in nur wenigen Wochen in seinem Exil in Luxemburg und Brüssel. Das macht den Roman zu einem außergewöhnlichen Zeitdokument. Als Boschwitz diesen Roman schrieb, konnte er nicht wissen, was in den nächsten Jahren geschehen würde. Dass der Krieg ein Jahr später ausbrach, dass die Nazis die Juden nicht nur verfolgten, sondern ermordeten. Er erzählt in seinem Roman, dass die legale Einreise in europäische Länder, wie England, Frankreich oder der Schweiz 1938 geradezu unmöglich war. Auch Visa für die USA und die südamerikanischen Staaten waren kaum noch zu bekommen. Er schildert an dem Beispiel des Kaufmanns Silbermann, wie die Juden in der Falle saßen.
Der Roman wurde 1939 in England, 1940 in den USA und 1945 in Frankreich veröffentlicht. Ich habe darüber nachgedacht, wie die Geschichte wohl damals von den Lesern in diesen Ländern empfunden und verstanden wurde. Spürten sie auch diese Ausweglosigkeit und machten sich darüber Gedanken, warum unter anderem ihr Land den asylsuchenden Juden nicht zur Hilfe kam? Oder erkannten sie in diesen Tagen nicht die Realität, die dieser Roman schilderte? Boschwitz beschreibt in seinem Roman, wie die Weltgemeinschaft den Verbrechen, die sich in diesen Zeiten in Deutschland ereigneten, gleichgültig und passiv gegenüberstand.
Ebenso tragisch wie die Geschichte des Otto Silbermann liest sich das Schicksal des Autors. Boschwitz ist Halbjude und verlässt 1935 Deutschland. Er emigriert zunächst nach Schweden und lebt in den Jahren danach unter anderem in Oslo und Paris, bis er 1939 seiner Mutter nach England ins Exil folgt. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird Boschwitz interniert und mit dem ehemaligen Truppentransporter Dunera in ein australisches Internierungslager gebracht. Die Überfahrt wird eine Tortur und geht in die britische Geschichte ein. Am 29.10.1942 stirbt Boschwitz bei dem Rücktransport auf dem Weg von Australien nach England. Ironie des Schicksals: Boschwitz befindet sich auf einem von der britischen Regierung gecharterten Passagierschiff, das von dem deutschen U-Boot U-575 torpediert wird. Das Passagierschiff sinkt und mit ihm 362 Passagiere. So erfuhr Borschwitz nie, was wirklich mit den Juden im Nazideutschland geschah. Er erlebte nicht das Ende des Krieges und somit auch nicht die Befreiung Deutschlands von den Nazis. Sein Roman, „Der Reisende“ machte ihn jedoch unsterblich. Zwar geriet der Roman in den darauffolgenden Jahren in Vergessenheit. Er wurde nach dem Krieg in Deutschland Verlagen angeboten, aber scheinbar bestand kein Interesse. Erst im Jahre 2015 wurde dieser Roman wiederentdeckt und mit Zustimmung der Familie des Autors lektoriert und 2018 erstmals in der Sprache veröffentlicht, in der er geschrieben wurde: In deutscher Sprache. Dieser Roman ist lehrreicher als jedes Geschichtsbuch.
Wie viele Romane wohl irgendwo da draußen darauf warten, entdeckt zu werden. Wie viele Geschichten darauf warten, erzählt und wie viele Menschen da draußen warten, gerettet zu werden.
Claudia Lekondra