Ost und West, das ist doch nur eine Himmelsrichtung - Teil I Die Tage, als die Mauer durchlässig wurde

Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Was waren das für Tage um den 9. November 1989 herum! Was für eine Stimmung, was für eine Euphorie! Ein jeder von uns erinnert sich daran, wo und wann ihn die Nachricht erreichte: Die Mauer ist gefallen! Nur ein paar Worte, die alles veränderten. Von jetzt auf gleich. Wobei die Aussage nicht korrekt ist. Am 9. November 1989 stand die Mauer natürlich noch, sie war jedoch in jener Nacht durchlässig geworden. Ich befand mich in Gatow bei einer Bekannten und bekam nichts davon mit, was gerade in meiner Stadt geschah. Erst am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter mit dieser Nachricht. Von diesem Moment an war ich mitten im Geschehen. Schon am 10. November standen die ersten Familienmitglieder, die damals im Prenzlauer Berg lebten, bei uns vor der Tür. Was war das für ein schönes Gefühl. Sie kamen uns einfach besuchen. All die vielen Jahre waren die Familienbesuche einseitig und nun waren sie da und schauten, wie wir lebten. An diesem Abend sind wir spontan mit ihnen zum Kurfürstendamm gefahren und das Bild, was sich mir dort bot, werde ich nie vergessen. Aufgrund des Menschenandranges wurde der Kudamm an diesem Abend mehr oder weniger spontan zu einer Fußgängerzone erklärt. Die Polizei sperrte den Kudamm und zum Teil auch die angrenzenden Straßen für den Autoverkehr. Viele der Läden am Kudamm und Umgebung hielten sich an jenem Abend nicht an die gesetzlich vorgegebenen Öffnungszeiten, sondern ließen ihre Läden über die regulären Zeiten hinaus geöffnet. Und dies nicht in Erwartung eines großen Umsatzes, sondern weil sie den Menschen, die aus dem anderen Teil des Landes zu Besuch waren, ermöglichen wollten, den ganzen Abend durch die Läden zu bummeln. Zum einen fehlte es den Besuchern damals an den finanziellen Mitteln und zum anderen ging es an diesem Abend nicht darum etwas zu kaufen, sondern zu gucken. Sich alles anzuschauen in dieser Welt, die sie nur aus dem Fernsehen und bestenfalls aus Erzählungen kannten. Zu achtzig Prozent waren an diesem Abend Menschen aus der damaligen DDR unterwegs und was mir sehr nachhaltig in Erinnerung blieb, war die Ruhe, die trotz der Menschenmassen auf dem Kudamm herrschte. Viele sprachen nicht, sondern schauten nur. Und es gab viel zu schauen. Ich lief an diesem Abend ebenfalls schweigend über den Kudamm, überwältigt von diesem Moment, von dieser Stimmung. Ich erlebte, wie Ladenbesitzer Sachen verschenkten und ich empfand die Geste nie als gönnerhaft den Bürgern der damaligen DDR gegenüber, sondern als ein Ausdruck der Freude und eben auch der Euphorie seitens der damaligen West-Berliner. Ein Wunder war geschehen und man war live dabei. Auch noch Wochen und sogar Monate nach der Maueröffnung herrschte im damaligen West-Berlin ein Ausnahmezustand. Es wurden Straßenzüge im Zentrum von West-Berlin gesperrt, weil man seinen Trabant oder Wartburg aus Verzweiflung, da man keinen Parkplatz fand, einfach mitten auf der Straße abstellte. Parkplatzprobleme, etwas, was man in der ehemaligen DDR nicht kannte. Der öffentliche Nahverkehr West-Berlins brach fast zusammen, weil der Fahrplan der BVG nicht darauf ausgerichtet war, diese Masse von Besuchern zu transportieren und die Flotte nicht genügend Busse hergab. Es kam dann Hilfe aus dem Bundesgebiet und von Seiten der amerikanischen Militärbehörde. Man gewöhnte sich schnell daran, dass Militärbusse und Busse aus anderen Regionen des Landes im Auftrag der BVG unterwegs waren. Behelfsmäßig wurden Schilder an der Windschutzscheibe angebracht, die darauf hinwiesen, um welche Buslinie mit welcher Busendhaltestelle es sich handelte. Busfahrer fuhren extra Schichten, ebenfalls unterstützt von Kollegen aus anderen Regionen. In dieser Zeit beschwerte sich niemand über das Verkehrschaos, zu groß war die Freude darüber, dass die Mauer durchlässig geworden war. Ein jeder versuchte gelassen mit den erschwerten Bedingungen umzugehen. Denn bei all der Freude und dem Ausnahmezustand ging das Leben und damit der Alltag weiter. Irgendwie musste man zur Arbeit gelangen. In den Monaten nach dem Mauerfall verwandelte sich das Zuhause meiner Eltern zu einer Pension. Nach und nach besuchten uns die Familienmitglieder aus Quedlinburg, Chemnitz, Teltow, Buch und eben Prenzlauer Berg. Es war für meine Eltern sicher eine anstrengende, aber auch schöne Zeit. Über die Kosten sprach man damals nicht, war es doch für meine Eltern selbstverständlich, allen Kost und Logis zu gewähren und ihnen die Stadt zu zeigen. Unterwegs kehrte man mal zum Essen oder auf einen Kaffee und Kuchen irgendwo ein und natürlich übernahmen auch hier meine Eltern die Kosten. Wollten sie doch nicht, dass einer der Familienmitglieder sein kostbares Begrüßungsgeld dafür ausgeben musste. Theater, Kinos und auch einige der Konzertveranstalter gaben den Menschen aus der damaligen DDR Rabatte bis zu 50%, um ihnen einen Besuch zu ermöglichen. Und heute denke ich darüber nach, ob das eigentlich so richtig war. Erweckte man vielleicht durch die Großzügigkeit den Eindruck einer Leichtigkeit im Umgang mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, die grenzenlos schienen? Aber damals, fragte keiner danach, man hatte einfach nur das Bedürfnis zu geben und schränkte sich mitunter in seinen persönlichen Ausgaben ein. Die Kino-, Theaterhäuser und Konzertveranstalter nahmen die finanziellen Einbußen vorübergehend hin. Darüber sprach man natürlich auch nicht. Ich erinnere mich an eine entfernte Bekannte, die in Kreuzberg lebte. Sie hatte ihr finanzielles Auskommen, aber einen Konzertbesuch konnte sie sich nicht leisten. Sie schaute schon etwas neidisch auf die, die einen DDR Pass besaßen, erklärte mir dann aber gleich, dass das ja eigentlich schon okay sei. Schließlich konnte sie all die Jahre auf der freien Seite der Stadt leben, während die anderen eingesperrt waren. Sie sah das als Wiedergutmachung für diese Jahre.

Gerade in den letzten Wochen denke ich oft über diese Aussage nach. Im Fernsehen werden jetzt viele Dokumentationen zum Thema gesendet: Wie schaut es aus in unserer Republik, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer? Auch in Talkshows bedient man sich verstärkt dem Thema. Erstaunt sitze ich dann dort und lausche den Gästen der Talkshows oder folge den Dokumentationen. Ständig geht es dort darum zu kritisieren, was seitens der Politik alles falsch gemacht wurde und es wird ständig von Ossi und Wessi geredet. Habe ich doch gedacht, dass wir Deutschen den diesjährigen Jahrestag zum Mauerfall feiern. Dass wir uns daran erinnern, dass für einige Bürger unseres Landes für Jahrzehnte die Freiheit nicht selbstverständlich war und seit nunmehr 30 Jahren alle Menschen in Deutschland in Freiheit leben. Ist das allein kein Grund zu feiern? Beim Zusammenwachsen unseres Landes sind sicher nicht alle Prozesse optimal gelaufen und mit dem Wissen von heute würde sicher vieles anders angepackt werden. Durch die Dokumentation und Talkshows ist mir klar geworden, dass wir zwar heute keine Mauer aus Beton und Stacheldraht mehr haben, dafür hat der eine oder andere aber seine Mauer noch im Kopf, die unser Land nach wie vor in Ost und West trennt und diese Mauer muss weg.

 

 Claudia Lekondra