Laut den zurzeit in den Medien laufenden Dokumentationen zum Thema: 30 Jahre nach dem Mauerfall, wir ziehen Bilanz, ist die Rede davon, dass einige Menschen aus der ehemaligen DDR unzufrieden seien. Gründe der Unzufriedenheit sind neben der Lohnsituation unter anderem das Gefühl in einigen Gebieten der ehemaligen DDR abgehängt worden zu sein oder dass ihre bisherigen Lebensleistungen nicht anerkannt werden. Im Fokus stehen hier Menschen im Alter von 60plus, jene, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls bereits einige Jahre im Berufsleben standen und es gewöhnt waren, in gesicherten geraden Bahnen ihr Leben zu leben. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass die von ihnen so ersehnte Freiheit über die Selbstbestimmung hinaus auch etwas damit zu tun hat, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen. Von der DDR waren sie anderes gewohnt. Eben klare Vorgaben. Die fielen nun weg. Sie fanden sich von einem Tag auf den anderen in einem System wieder, das ihnen fremd war, in dem sie erst einmal lernen mussten sich zurechtzufinden. Im Vorteil waren die Bürger der neuen Bundesländer, die Bekannte und Verwandte in den alten Bundesländern hatten, die ihnen idealerweise bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite standen. Die ihnen eben jene Orientierungshilfe leisten konnten, die eigentlich alle ehemaligen Bürger der DDR bedurft hätten. Aber in der Zeit der Euphorie jener Tage nach dem 9. November 1989 machten sich die meisten darüber keine Gedanken. Man lebte den Augenblick der Geschichte. Waren wir doch alle damals etwas überfordert von all diesen unglaublichen Eindrücken und Begegnungen.
Ende November des Jahres 1989 machte sich mein Vater, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, auf den Weg zur Messe nach Hannover. Er plante, wie immer, in den frühen Morgenstunden von Berlin aus mit dem Auto nach Hannover aufzubrechen und am Abend zurückzukehren. Was er dabei nicht bedacht hatte war, dass gefühlt die Hälfte der damaligen DDR-Bürger auf den Straßen Richtung Westen unterwegs waren. Er fand sich in dem größten Stau wieder, den er je erlebt hatte. Die Autobahnen waren derartig überfüllt, dass ein Vorankommen nicht möglich war. Es ging stundenlang nichts mehr. Weder vor noch zurück. Es war kalt und ungemütlich, aber niemand regte sich auf, alle blieben entspannt. Man teilte Essen und Getränke und da es in den Trabis und Wartburgs bei den Außentemperaturen und dem mangelnden Sitzkomfort über Stunden doch eher ungemütlich wurde, boten die Besitzer der anderen Automodelle ihr Wageninneres zum Verweilen an. Man nutzte die gemeinsame Wartezeit für Unterhaltungen und fand sich damit ab, dass man kaum vorwärts kam.
Als die Nacht hereinbrach, gelang es meinem Vater mit ein paar anderen die Autobahn zu verlassen. In den anliegenden Dörfern öffneten die Bewohner ihre Türen und boten den Gestrandeten Asyl für die Nacht, und zwar für alle, egal, ob man aus dem Westen oder Osten kam. So übernachtete mein Vater in jener Nacht völlig unplanmäßig bei fremden Leuten, die ihm neben einer Schlafstelle auf der Couch auch mit Essen versorgten. Am nächsten Morgen frühstückte man entspannt gemeinsam, bevor man dann versuchte, seinen Weg fortzusetzen. Mein Vater berichtete davon, wie selbstverständlich sich dieser Zusammenhalt für alle Seiten anfühlte. Diese Möglichkeit des zwanglosen Austausches und der Unterstützung zwischen den Bürgern der DDR und denen aus der damaligen Bundesrepublik Deutschland wäre ein paar Wochen zuvor unmöglich gewesen. Achtete die DDR Regierung all die Jahre tunlichst darauf, dass Kontakte nur unter Verwandten der jeweils anderen Seite des Landes gepflegt werden durften.
Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil wir diese Momente nicht vergessen dürfen. Diese und viele andere Begegnungen waren der Anfang eines Deutschlands, auf das wir doch seit dem Mauerbau immer gehofft hatten. Dass wir eines Tages einander wieder ungezwungen begegnen können und dürfen, wie und wo wir wollen und es dabei egal ist, aus welchem Bundesland wir stammen.
Claudia Lekondra