Gesichtslose Zeiten

Auf den ersten Blick glaubt man, alles ist wie immer. In Berlin bewegen sich die Autos, Busse und alles, was sonst so auf den Straßen unterwegs ist, wieder von einem Stau in den nächsten. Die Menschen hetzen wieder aneinander vorbei, Sicherheitsabstand ade. Aber es sind kaum Touristen in der Stadt und wenn man abends und nachts unterwegs ist, fehlt das Leben und der Trubel, da alle kulturellen Einrichtungen sowie die Clubs dieser Stadt nach wie vor noch geschlossen sind. Das macht sich allerdings nur in den späteren Stunden des Tages besonders bemerkbar.

Und dann begegnet man im Laden, in der U-Bahn oder im Bus all diesen Gesichtslosen. Spätestens dann wird einem klar, dass eben nichts wie immer ist. Der Mund- und Nasenschutz erinnert uns an die unsichtbare Bedrohung und daran, dass jeder von uns eine potenzielle Virenschleuder sein könnte. Wir verlieren im wahrsten Sinne des Wortes unser Gesicht hinter dem Mund- und Nasenschutz. Es ist nicht mehr möglich, im Gesichtsausdruck des anderen zu lesen und somit habe ich das Gefühl, dass unsere Kommunikation nachhaltig gestört ist, während wir uns hinter diesem Schutz verstecken müssen.

Ich bin es gewohnt, an dem Zusammenspiel zwischen Mund und Augen im Gesicht des anderen zu lesen. Daran mache ich aus, wie es dem anderen geht, was er fühlt. Im Supermarkt bin ich sogar schon mal an einer Bekannten zunächst grußlos vorbei gegangen, weil ich sie mit dem Stoff im Gesicht nicht wahrgenommen hatte und die Kommunikation beschränkte sich auf das Wesentliche, da es nicht immer einfach zu verstehen ist, was der andere da gerade in seine „Abdeckung“ spricht. Dieses „Verstecken“ hinter dem Stoff ist für manche auch praktisch. Begeistert wurde mir hierzu berichtet, dass man der einen oder anderen Begegnung absichtlich elegant aus dem Weg gehen kann. Nun gut, dieses Verhalten würde ich jetzt einfach mal als gestörte Kommunikation bezeichnen.

Und dass wir in den letzten Monaten mal schnell und unkompliziert unserer Grundrechte beschnitten wurden und dass auch die Sache mit dem Datenschutz nicht mehr ganz so eng gesehen wird, so lange man alles mit dem Versuch der Eindämmung der Pandemie begründen kann, ist ja nun das eine, aber dass den „Schlingeln“ unserer Gesellschaft so manches vereinfacht wird, ist das andere. Ich empfinde es schon etwas beunruhigend, wenn ich am Eingang zu den Bankfilialen aufgefordert werde, meinen Mund- und Nasenschutz aufzusetzen, selbst wenn ich mich nur zu einem der Geldautomaten begeben möchte. Wirklich prima. Wenn man etwas im Schilde führt, kann man sich jetzt dem Opfer völlig unkompliziert nähern. Das war früher schwieriger. Da ist man halt einfach aufgefallen, wenn man eine Bankfilialen mit Maske betrat. Jetzt kann man sich sogar zum Schein erst einmal brav in der Schlange einordnen und dann, so als Überraschungsmoment, zum Überfall blasen und man bleibt dabei unerkannt. Auch die Überwachungskameras an den Geldautomaten lassen einen kalt. Am helllichten Tag hebt man jetzt einfach mit fremden (zuvor entwendeten) Karten Geld ab. Zwischen all den anderen „Maskierten“ fällt man ja nicht mehr auf und man muss nicht im Schutz der Dunkelheit in den Vorraum der Bankfilialen mit einer Mütze ins Gesicht gezogen huschen. Echt prima. Auch so ein Taschendiebstahl, Einbruch etc. lässt sich mit dem Mund -und Nasenschutz um einiges einfacher bewerkstelligen. Man wird nicht stutzig, wenn die eine oder andere Person auch auf der Straße den Mund- und Nasenschutz trägt. Man vermutet hier einen besonders ängstlichen Menschen dahinter oder einen, der einfach keine Lust hat, ständig den Schutz auf und ab zu setzen. Na egal, wir haben ja gerade andere Probleme in unserer gesichtslosen Zeit und auf den ersten Blick ist ja schließlich alles wie immer.

 

Claudia Lekondra